Die bereits ausgeführte systematische Einordung der genannten Absätze hat zumindest auf deutscher Ebene unter den Rechtsexperten zu einem Meinungsstreit geführt. Ein zunehmender Teil von Rechtsexperten stellt darauf ab, dass Art. 85 Abs. 1 DSGVO eben nicht nur als Anpassungsauftrag an die Mitgliedstaaten, sondern vielmehr als allgemeine Öffnungs- und Abwägungsklausel verstanden werden müsse. Sie erlaube es den Mitgliedstaaten, in eng auszulegenden Ausnahmefällen, für andere als die in Abs. 2 genannten privilegierten Zwecken Freistellungen und damit einen rechtlichen Ausgleich der kollidierenden Rechtspositionen zu schaffen. Denkbar wäre zudem auch die Abweichung von den in Art. 85 Abs. 2 DSGVO genannten Kapiteln.
Letzteres würde zum Beispiel die Regelung des § 23 MStV rechtfertigen, der in Abs. 1 Satz 6 das Kapitel VIII der DSGVO für nicht anwendbar erklärt, sofern Unternehmen/Hilfs- und Beteiligungsunternehmen der Presse der Selbstregulierung durch den Presskodex und der Beschwerdeordnung des Deutschen Presserates unterliegen.
Sollte man Art. 85 Abs. 1 DSGVO nicht als Öffnungsklausel für eng zu begrenzende Ausnahmefälle verstehen, hätte dies auch Auswirkungen auf die im Äußerungsrecht geltenden Vorschriften des Kunsturhebergesetzes (KUG). Das KUG gibt den rechtlichen Rahmen für die Veröffentlichung und Zugänglichmachung von Personenbildnissen vor, die die abgebildete Person in für Ditte erkennbarer Weise wiedergeben.
Das KUG erfasst damit aber auch Veröffentlichungen von Bildnissen im nicht journalistischen Bereich, also Konstellationen, in denen keine Zweckrichtung im Sinne des Art. 85 Abs. 2 DSGVO vorliegt, in denen aber dennoch der Freiheit der Meinungsäußerung gegenüber dem Schutz personenbezogener Daten der Vorzug eingeräumt wird.
Dem kommt insofern praktische Bedeutung zu, als dass das KUG für das Recht am eigenen Bild keine Formerfordernisse statuiert, Einwilligungen grundsätzlich unwiderruflich sind und der Erlaubnistatbestand des § 23 KUG gilt, wonach zum Beispiel Bildnisse aus dem Bereich der Zeitgeschichte, Bilder von Versammlungen oder solchen, auf denen Personen nur als sog. Beiwerk erscheinen auch ohne die Einwilligung der Abgelichteten veröffentlicht werden dürfen. Die Relevanz dieser Privilegierungen zeigt sich zum Beispiel bei Veröffentlichungen von Unternehmen im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit, bei gewerblichen Fotographen, Bloggern etc.
Personenbildnisse unterliegen als personenbezogene Daten rechtlich sowohl dem KUG, als auch dem allgemeinen Datenschutzrecht. In der (arbeits- und zivilrechtlichen) Rechtsprechung wurde diese Kongruenz in der Vergangenheit dahingehend aufgelöst, dass dem KUG als spezialgesetzlicher Regelung (insbesondere hinsichtlich der Zurschaustellung von Bildnissen ohne Einwilligung des Abgelichteten, §§ 22, 23 KUG) Vorrang eingeräumt wurde. Der von der Rechtsprechung etablierte Anwendungsvorrang des KUG war mit den Vorgaben der DSRL vereinbar. Anders als die DSRL enthält aber die DSGVO keine Subsidiäritätsklausel, sie hat vielmehr Anwendungsvorrang vor nationalstaatlichen Regelungen. Damit erfasst sie grundsätzlich auch Materien, die im deutschen Recht bislang im Rahmen des Äußerungsrechts geregelt wurden, was die Anwendbarkeit des KUG grundsätzlich in Frage stellt.
Würde man der Auffassung, dass Art. 85 Abs. 1 DSGVO keine eigenständige Öffnungsklausel enthält, folgen, dürfte das KUG hinsichtlich der Veröffentlichung von Personenbildnissen, deren Zweck außerhalb der in Art. 85 Abs. 2 DSGVO privilegierten Zwecke liegt, nicht angewendet werden. Für diese Fälle käme dann ausschließlich die DSGVO zur Anwendung, insbesondere die Art. 6 und 7 DSGVO. Demnach wären z.B. Einwilligungen zukünftig frei widerruflich, die Zustimmung des Abgebildeten würde sich nicht mehr nach §§ 22, 23 KUG, sondern nach den Kriterien des Art. 6 Abs. 1 f DSGVO (Verarbeitung ist zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten erforderlich) richten. Der BGH hat diese Frage bislang ausdrücklich offengelassen und darauf verwiesen, dass eine Interessenabwägung nach Art. 6 Abs. 1 f DSGVO zu dem gleichen Ergebnis kommen müsse, wie eine solche nach den Vorgaben der §§ 22, 23 KUG.
Insgesamt spricht einiges dafür, Art. 85 Abs. 1 DSGVO als eigenständige Öffnungsklausel zu interpretieren, wonach für die genannten Sachverhalte weiterhin die äußerungsrechtlichen Regelungen des KUG und das hierzu von der deutschen Rechtsprechung entwickelte „Case Law“ anwendbar bliebe, welches zukünftig allerdings am Maßstab der europäischen Grundrechte gemessen werden müsste. Der BGH hat das Fortgelten des KUG inzwischen zumindest für den journalistischen Bereich ausdrücklich bestätigt. Das KUG habe auch nach Inkrafttreten der DSGVO Fortbestand, weil es im Bereich der Bildberichterstattung die nach europäischem Recht erforderliche Ausgleichsfunktion zur Herbeiführung praktischer Konkordanz zwischen Datenschutz einerseits und der Äußerungs- und Kommunikationsfreiheit andererseits herstelle. Art. 85 Abs. 2 DSGVO mache im Kern nämlich keine materiell-rechtlichen Vorgaben, sondern stelle vielmehr auf die Erforderlichkeit der Herbeiführung des Ausgleichs der widerstreitenden Grundrechtspositionen ab.
Es bleibt also abzuwarten, ob Art. 85 Abs. 1 DSGVO als eigenständiger Regelungsauftrag zu verstehen ist und demgemäß die äußerungsrechtlichen Regelungen des KUG auch für o.g. Sachverhalte außerhalb des journalistischen Bereiches des KUG Geltung haben. Abschließend wird hier nur der EuGH entscheiden können. Es ist aber davon auszugehen, dass das Abstellen auf Art. 85 Abs. 1 DSGVO als eigenständige Öffnungsklausel nur komplementär sein kann, also auf solche Randkonstellationen beschränkt bleiben muss, die nicht in den Anwendungsbereich des Art. 85 Abs. 2 DSGVO fallen und die anderenfalls keiner interessengerechten Lösung zugeführt werden können.