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BVerfG: Berichterstattung über lange zurückliegende Fehltritte öffentlich bekannter Personen zulässig

Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss einer Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung der Meinungs- und Pressefreiheit stattgegeben. Sie richtet sich gegen ein zivilgerichtliches Verbot, in einem Porträtbeitrag über einen öffentlich bekannten Unternehmer dessen mehrere Jahrzehnte zurückliegenden Täuschungsversuch im juristischen Staatsexamen zu thematisieren.

Die Kammer greift damit die Maßgaben der Senatsentscheidungen zum „Recht auf Vergessen“ auf und konkretisiert sie für die Konstellation aktueller Berichterstattung über vergangene Ereignisse. Dabei hat sie bekräftigt, dass eine wahrhafte Berichterstattung über Umstände des sozialen und beruflichen Lebens im Ausgangspunkt hinzunehmen ist. Zudem hat sie klargestellt, dass die Gewährleistung einer „Chance auf Vergessenwerden“ durch das Grundgesetz nicht dazu führt, dass die Möglichkeit der Presse, in ihren Berichten Umstände zu erwähnen, die den davon Betroffenen unliebsam sind, schematisch durch bloßen Zeitablauf erlischt. Vielmehr kommt es darauf an, ob für den Bericht als Ganzen ein hinreichendes Berichterstattungsinteresse besteht und ob es für die Einbeziehung des das Ansehen negativ berührenden Umstands objektivierbare Anknüpfungspunkte gibt. Solange das der Fall ist, ist es Aufgabe der Presse, selbst zu beurteilen, welche Umstände und Einzelheiten sie im Zusammenhang eines Berichts für erheblich hält und der Öffentlichkeit mitteilen will. Dies gilt auch unter den Verbreitungsbedingungen des Internets.

Sachverhalt:

Mitte 2011 veröffentlichte die Beschwerdeführerin, die Verlegerin eines Wirtschaftsmagazins, einen Porträtbeitrag über den Betroffenen und das seinen Namen tragende und damals von ihm geleitete börsennotierte Unternehmen. Zur Sprache kommen unter anderem seine Stellung als Vorstandsvorsitzender, die Stellung seiner Ehefrau als Aufsichtsratsmitglied, die geschäftlichen Aktivitäten, die wirtschaftliche Entwicklung und jüngere Liquiditätsschwierigkeiten des Unternehmens und verschiedene rechtliche Probleme des Betroffenen und des Unternehmens. Einleitend heißt es, der Betroffene habe „zwei große Leidenschaften: die Fliegerei und die Juristerei“. Einen Pilotenschein besitze er, weniger gut sei es um seinen rechtswissenschaftlichen Abschluss bestellt. Vom Staatsexamen sei er wegen Täuschungsversuchs ausgeschlossen worden. Anschließend schildert der Artikel, der Betroffene habe immer wieder rechtliche Schwierigkeiten. So sei er jüngst in einem Strafprozess wegen Bestechung einer Krankenkassengutachterin zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt worden. Die Entscheidung über seine Revision in einem weiteren Strafverfahren wegen versuchter Anstiftung zur Falschaussage und Nötigung stehe noch aus. Das Ende des Artikels kommt auf die strafgerichtlichen Verurteilungen zurück und wirft die Frage auf, ob dem Kläger des Ausgangsverfahrens nun möglicherweise wegen Unzuverlässigkeit ein Entzug seines Pilotenscheins drohe.

Auf Klage des Betroffenen untersagten die Zivilgerichte die Erwähnung des Täuschungsversuchs in dem Bericht. Zwar müsse man die Mitteilung wahrer Tatsachen aus der Sozialsphäre in weitem Umfang hinnehmen. Der Betroffene werde jedoch durch die Mitteilung als ein Mensch dargestellt, dem unredliche Methoden nicht wesensfremd seien. Ein konkreter Anlass für das neuerliche Aufgreifen des Täuschungsversuchs habe nicht bestanden. Der Betroffene dürfte wegen dieses längst vergangenen Fehlverhaltens nicht dauerhaft an den Pranger gestellt werden. Auch werde die Berichterstattung durch das Verbot nur unwesentlich eingeschränkt, da die Beschwerdeführerin weiter über die angebliche Prozessfreude und das nicht abgeschlossene Jurastudium berichten könne, nur nicht über die konkreten Umstände seiner erfolglosen Beendigung.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

1. Die Kammer hat für die gebotene Abwägung zwischen dem Berichterstattungsinteresse der Presse und den Persönlichkeitsinteressen Betroffener zentrale Gesichtspunkte aufgegriffen, die im Fall eines Wiederaufgreifens lange zurückliegender Ereignisse zu beachten sind.

Danach gilt im Ausgangspunkt, dass die Mitteilung wahrer Tatsachen mit Sozialbezug hinzunehmen ist. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht vermittelt kein Recht, in der Öffentlichkeit so dargestellt zu werden, wie es dem eigenen Selbstbild und der beabsichtigten Wirkung entspricht. Betroffene können sich nicht aus der Gesamtheit ihres vergangenen sozialbezogenen Verhaltens und der darin zum Ausdruck kommenden Persönlichkeit die Aspekte herausgreifen, von denen sie sich eine positive Außenwirkung versprechen und alles andere einseitig dem Blick der Öffentlichkeit entziehen.

Anderes gilt für die Mitteilung von Tatsachen und Handlungen, die dem Kern der Privatsphäre zuzurechnen sind und deshalb im Grundsatz einer öffentlichen Erörterung entzogen sind. Hierzu gehören etwa Details privater Beziehungen und persönliche Ausdrucksformen der Sexualität. Eine unzumutbare Beeinträchtigung der freien Persönlichkeitsentfaltung auch durch eine wahre Tatsachenberichterstattung kann darüber hinaus – insbesondere angesichts der großen Breitenwirkung personenbezogener Informationen über das Internet – unter besonderen Umständen auch aus einer unzumutbar anprangernden Wirkung erwachsen. Diese kann sich z.B. aus der außergewöhnlichen Art, Weise und Hartnäckigkeit einer Berichterstattung ergeben oder daraus, dass eine einzelne Person aus einer Vielzahl vergleichbarer Fälle herausgegriffen und zum „Gesicht“ einer personalisierten und individualisierenden Anklage für ein damit verfolgtes Sachanliegen gemacht wird. Einzelne müssen nicht unbegrenzt hinnehmen, ohne, dass sie dafür Anlass gegeben haben, in aller Öffentlichkeit mit ihrem gesamten, teils lange zurückliegenden Verhalten förmlich zermürbt zu werden. Für ein Überwiegen des Interesses an einem Schutz der Persönlichkeit genügt es hingegen nicht, dass der mitgeteilte Umstand dazu geeignet ist, das soziale Ansehen oder den Respekt, den die betreffende Person genießt, zu mindern.

Jenseits dieser besonderen Fälle ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, dass das öffentliche Berichterstattungsinteresse durch Zeitablauf weniger akut werden kann. Das gilt besonders für die Berichterstattung über lange zurückliegende Straftaten, bei der zusätzlich das Resozialisierungsinteresse in Rechnung zu stellen ist. Dieses Abflauen des Berichterstattungsinteresses in der Zeit lässt sich jedoch nicht aus dem zeitlichen Abstand des zu berichtenden Ereignisses als solchem ableiten. Es ist vielmehr bei einer neuerlichen Berichterstattung anhand ihres jeweiligen Anlasses zu bemessen. Dieser kann neu entstehen und einem Vorgang neue Aktualität geben. Andernfalls könnte man über Fehltritte, Ansichten oder Äußerungen von öffentlich bekannten Personen, die diese als Heranwachsende oder in früheren Lebensphasen charakterisieren, regelmäßig nicht berichten. Denn oft werden seit dem betreffenden Ereignis mehrere Jahrzehnte vergangen sein, wenn diese erstmals in die Öffentlichkeit treten. Für die Frage, wie sich der Faktor Zeit auf das Berichterstattungsinteresse auswirkt, ist auch das Verhalten der betroffenen Person von Bedeutung. Eine aktiv in die Öffentlichkeit tretende und dort kontinuierlich präsente Person kann nicht in derselben Weise verlangen, dass ihr vergangenes Verhalten nicht mehr Gegenstand öffentlicher Erörterung wird, wie eine Privatperson, deren zwischenzeitliches Verhalten von einem „Vergessenwerdenwollen“ getragen war.

Ebenfalls erheblich für die von den Fachgerichten vorzunehmende Abwägung können Gegenstand und Herkunft der mitgeteilten Information sein. War eine Information ohne Weiteres zugänglich, darf sie eher öffentlich berichtet werden, als wenn sie über aufwändige Recherchen oder gar rechtswidrige Handlungen erlangt wurde. Relevant ist auch, ob der mitgeteilte Umstand eher dem privaten Bereich zugeordnet ist oder ein Verhalten betrifft, das einen stärkeren Sozialbezug aufweist. Für die Schwere der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts aussagekräftig ist schließlich die Breitenwirkung der beanstandeten Berichterstattung, also etwa der Adressatenkreis der Publikation, die Auflagenzahl und die Verfügbarkeit im Internet.

Bei Würdigung des Interesses an einer freien Presseberichterstattung ist in Rechnung zu stellen, dass die öffentliche Vermittlung wahrer Tatsachen von allgemeinem Interesse zu den elementaren Aufgaben der Presse gehört. Die Herstellung eines Tatsachenfundaments, von dem die Allgemeinheit ausgehen kann, ist elementare Voraussetzung demokratischen aber auch privaten Entscheidens – sowohl bei einer politischen Wahl als auch bei wirtschaftlichen Entscheidungen. Dabei ist es Ausgangspunkt und Voraussetzung einer freien Presse, selbst zu entscheiden, was berichtet wird und wie Umstände miteinander verknüpft, bewertet und zu einer Aussage verwoben werden.

2. Diesen verfassungsrechtlichen Maßgaben genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht. Sie verkennen, dass die grundsätzliche Berechtigung der Presse zur Mitteilung wahrer, nicht allgemein der öffentlichen Erörterung entzogener Umstände über in der Öffentlichkeit stehende Personen nicht schematisch durch Zeitablauf erlischt. Besondere Gründe des Falls jenseits des Zeitfaktors, die eine Unzulässigkeit der Mitteilung begründen könnten, werden weder aus den Feststellungen noch aus der von den Gerichten getroffenen Abwägung ersichtlich.

Insbesondere ist der Täuschungsversuch im juristischen Staatsexamen im Zusammenhang mit der Berichterstattung kein Makel, der geeignet wäre, das Gesamtbild einer Person zu dominieren und ein selbstbestimmtes Privatleben des Betroffenen ernstlich zu gefährden. Die Gefahr einer sozialen Ausgrenzung geht von der Mitteilung nicht aus. Dass es sich bei der Einbeziehung des Täuschungsversuchs in den Artikel um eine nach ihrer Form und Hartnäckigkeit unzumutbar anprangernde Art der Berichterstattung handelt, ist ebenfalls nicht erkennbar.

Stattdessen war in die Abwägung maßgeblich einzustellen, dass der Betroffene stets öffentlich tätig war und die Öffentlichkeit suchte. Eine Person, die aus eigenem Zutun derart dauerhaft in der Öffentlichkeit steht, kann nicht verlangen, dass ihre in der Vergangenheit liegenden Fehler, nicht aber ihre Vorzüge, in Vergessenheit geraten. Gegenstand des „Rechts auf Vergessen“ sind nicht einzelne Handlungen, deren Interesse, erinnert zu werden, absolut und schematisch mit Zeitablauf erlischt. Vielmehr kommt es stets auf den jeweiligen Bericht und das daran bestehende Informationsinteresse an. Dieses ist im Ausgangspunkt von den Presseorganen selbst zu beurteilen. Rechtlich erforderlich ist allein, dass die Einbeziehung eines Umstands in den jeweiligen Bericht nicht objektiv ohne jeden Anknüpfungspunkt ist. Dem genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht.

Quelle: Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Juli 2020